Vor einigen Tagen sorgte das weiter unten verlinkte Video in den sozialen Netzwerken für Aufsehen: Ein arabischer Mitarbeiter der Deutschen Welle interviewt im Sudan eine junge Frau zum Thema „Genitalverstümmelung an Mädchen“ und ist sichtlich überfordert mit den Antworten – denn die Dame bestätigt ihm mehrfach mit süffisantem Grinsen, sie werde selbstverständlich ihre Töchter verstümmeln lassen – das sei schließlich „Tradition“.
Die Nonchanlance und unbedingte Bereitwilligkeit dieser Frau – die einst selbst Opfer der Verstümmelung wurde – ihre Kinder dieser schweren Gewalt zu unterwerfen, sorgt auf Facebook für Unverständnis bei internationalen Kommentatoren, aber auch für Zustimmung von Landsleuten. Und wie immer werden Stimmen laut, die nach „Bildung“ rufen, die ein „Schlüssel zum Stop der Verstümmelungen“ sei – eine Aussage, die seit Jahrzehnten insbesondere von westlichen Organisationen wie ein Mantra verbreitet wird.
Dabei verdeutlicht dieses Video genau das Gegenteil – dass weder Bildung noch Wohlstand die Weiterführung der Verstümmelungsgewalt in irgend einer Weise beeinflussen!
Die Frau, die hier interviewt wird, ist gebildet, eloquent, hübsch geschminkt, fährt einen schicken, koreanischen SUV und ist Mitglied der sudanesischen Mittel,- oder Oberschicht – und widerspricht damit in allen Punkten dem Bild, das hier im Westen kontiniuierlich von den Verstümmelungstätern gezeichnet wird: Arm, ungebildet und unwissend – nur darauf wartend, endlich „aufgeklärt“ zu werden, um sich dann geläutert von den Verstümmelungen abzuwenden. Sie widerspricht dem rassistischen Mythos des „guten Wilden“ , der gar nicht weiß, was er da eigentlich tut und nur aufgeklärt werden muss um einzusehen, dass es besser und gesünder ist, kleine Mädchen unversehrt aufwachsen zu lassen – und ihnen nicht bei lebendigem Leib die Genitalien abzuschneiden und bis auf eine kleine Öffnung zu vernähen.
Diese Frau ist eine entschlossene (potentielle) Täterin, die weder mit guten Worten noch Argumenten oder sonstigen Überzeugungsversuchen davon abzubringen sein wird, das an ihr verübte Verbrechen an die nächste Generation weiterzugeben.
Sie gibt dem sonst i.d.R. anonymen Gewaltkollektiv, dem rund 90% aller Sudanesen angehören, ein konkretes Gesicht – und das scheint die westlichen Betrachter ordentlich zu verstören. Die empirischen Fakten belegen seit fast einem Jahrzehnt, dass über 70 Jahre „Aufklärung“ im Sudan keinerlei Erfolge hervorgebracht haben, sondern die Verstümmelungsrate konstant bei fast 90% bleibt – d.h. von 100 sudanesischen Mädchen werden 90 Opfer von schwerster Genitalverstümmelung. In hoch gebildeten Familien werden 3% mehr Mädchen verstümmelt als in ungebildeten – und innerhalb der reichsten Gesellschaftsschicht ist die Verstümmelungsate sogar 20% höher als bei den Ärmsten. Das Verhalten der interviewten Frau ist also weder neu noch außergewöhnlich und schon gar nicht überrschend. Doch wie kommt es dazu?
Das eigene Trauma und die Identifikation mit dem Aggressor lässt die Opfer zu willfährigen Tätern werden.
Um zu verstehen, wie die fatale Weitergabe der Gewalt funktioniert, ist es wichtig, die Genitalverstümmelungen überhaupt erst einmal als systematische, intergenerationelle Gewalt zu begreifen. Die Opfer erleiden mit der Verstümmelung ein Maß an Gewalt, das an sadistischer Intensität kaum zu überbieten ist und erleben außerdem einen schweren Verrat und Vertrauensmissbrauch durch jene Personen (d.h. Mutter, Großmutter, Familie), die eigentlich für Schutz und Geborgenheit sorgen müssten.
Diese Kombination aus massiver Gewalt und Verrat durch die engsten Bezugspersonen löst schwere Traumata aus, die bei bis zu 80% der Opfer nachweisbar sind. Verdrängung, Abspaltung und „Identifikation mit dem Aggressor“ sind ypische psychische Abwehrreaktionen gegenüber schwerer Gewalt, die besonders dann entwickelt werden, wenn das Maß der erlebten Ohnmacht und Abhängigkeit besonders groß ist. Dabei werden die erlebte Gewalt und damit assoziierte Gefühle (auch Mitgefühl) völlig abgespalten oder abgeschaltet sowie die Verhaltensweisen des Aggressors (unbewusst bzw. oft gegen den bewussten Willen) übernommen und an die nachfolgende Generation weitergegeben. Und genau das verkörpert die von der DW interviewte Frau in aller Deutlichkeit.
Die Täter handeln mithin keineswegs aufgrund mangelnder Bildung oder fehlender Erkenntnis, sondern begehen diese Taten – wie alle Gewalttäter – um ihre eigenen ideologischen, persönlichen und materiellen Interessen gegen die der Opfer durchzusetzen – in vollem Bewusstsein der Folgen.
Schlussfolgerung: Ohne eine fundamentale, weltweite Änderung der Strategie wird der Kampf gegen die Genitalverstümmelungen auch weiterhin scheitern.
Dabei ist der einzige Weg, diesen fatalen Gewaltkreis zu durchbrechen ebenso einfach wie nachhaltig wirksam: Die Täter müssen nur konsequent daran gehindert werden, die Genitalverstümmelungen zu verüben!
Dies kann mit zwei simplen aber effektiven Maßnahmen erreicht werden:
Die enorme präventive Kraft und Wirksamkeit dieser beiden Maßnahmen besteht in dem eindeutigen, verbindlichen Signal an die Täter, dass sie
a.) die Verstümmelungen nicht mehr wie bisher unerkannt verüben könnten und
b.) harte Strafen zu erwarten hätten.
Es käme der gleiche Mechanismus zum Tragen, der in China zur Auslöschung eines vergleichbaren sadistischen Kollektivverbrechens gegen Mädchen führte – der bestialischen Verstümmelung weiblicher Füße. Diese Gewalttaten waren 1949 quasi über Nacht beendet worden, nachdem sie erstmals nicht nur offiziell verboten sondern auch wirklich geächtet und mit strafrechtlichen Sanktionen bedacht wurden.
Erst wenn die erste Generation unversehrter, nicht traumatisierter Mädchen und Frauen heranwachsen kann – und sei es gegen die Überzeugung der Täter – wird der psychologische Kreis der intergenerationellen Weitergabe der Verstümmelungsgewalt unterbrochen und der Grundstein für eine dauerhafte Abkehr von diesem Verbrechen gelegt.
Die TaskForce setzt sich seit Jahren für die Umsetzung dieser Maßnahmen ein – doch bislang sind nicht einmal die Politiker und Regierungen in Deutschland bzw. Europa bereit, sie zu implementieren, geschweige denn die politischen Verantwortlichen in Verstümmelungskulturen wie dem Sudan.
Ob und wann dieser wichtige Schritt endlich gegangen wird, hängt allein von dem Druck ab, der von einer kritischen Masse der Bevölkerung auf die politischen Entscheider ausgeübt wird…
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Sudan: "Circumcision is our tradition"
"If I had daughters I would circumcise them. Because it's our tradition!" See how one woman responded to DW's Jaafar Abdul Karim in the Sudan where 88% of women are genitally mutilated.
Gepostet von DW Stories am Sonntag, 22. Oktober 2017
Foto: (c) Shutterstock
3 Comments
Wir müssen nicht nach Afrika oder Asien schauen, um solche gesellschaftlichen akzeptieren Täter-Opfer-Kreisläufe zu finden.
Im „aufgeklärten Westen“ verneinen wir immernoch das Menschenrecht auf unversehrte Genitalien bei männlichen Kindern.
Wenn wir das nicht bekämpfen sind wir nicht besser als jene Menschen im Sudan und anders wo.
Wir müssen alle Kinder schützen.
Herr Masson – es ist zu einer regelrechten Unsitte verkommen, die Verstümmelungen von Mädchen mit dem Verweis auf die Beschneidung von Jungen zu relativieren, zu verharmlosen. Gewalt gegen Kinder ist grundsätzlich zu verurteilen, das steht außer Frage. Es ist aber kein Grund, eine andere „Baustelle“ aufzumachen! Sie können und dürfen sich gerne mit den sadistischen Tätern im Sudan in einen Topf werfen – aber bitte ersparen Sie uns diesen Selbsthass.
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