„Wie können Mütter zulassen, dass ihren Töchtern die Genitalverstümmelung angetan wird, obwohl sie diese Folter selbst erlebt haben“?
lautet eine der im Westen wohl am häufigsten gestellten Fragen im Zusammenhang mit Genitalverstümmelung an Mädchen.
Das grundlegende Unverständnis und die Hilflosigkeit, die sich in dieser Frage äußern, sprechen Bände darüber, wie sehr das gewalttätige Wesen von Genitalverstümmelung immer noch verkannt wird und darüber, wie wenig Wissen über die Mechanismen von Gewalt bislang im kollektiven Bewusstsein verankert ist – denn die Antwort könnte einfacher kaum sein:
Die Mütter überlassen ihre Töchter der Verstümmelung – nicht obwohl – sondern WEIL sie Opfer sind!
Genitalverstümmelung „funktioniert“ auf der psychologischen Ebene prinzipiell wie jede andere Form intergenerationeller Gewalt, wie z.B. die Weitergabe sexualisierter, physischer und psychischer Misshandlung innerhalb von Familien. (1)
Die Opfer erleiden mit der Verstümmelung zum einen ein Maß an Gewalt, das an sadistischer Intensität kaum zu überbieten ist und zum anderen schweren Verrat und Vertrauensmissbrauch durch jene Personen (d.h. Mutter, Großmutter, Familie), die eigentlich für Schutz und Geborgenheit sorgen müssten.
Viele Überlebende schildern diese Erfahrung ähnlich wie die ägyptische Schriftstellerin Nawal El Saadawi:
„Was man mir aus dem Körper geschnitten hatte, wusste ich nicht – ich wollte es auch nicht wissen. Ich weinte nur und rief um Hilfe nach meiner Mutter.
Der schlimmste Schock kam, als ich mich umsah und merkte, dass sie neben mir stand. Ja, sie war es, in voller Lebensgröße – es konnte keinen Zweifel geben. Mitten zwischen diesen Fremden stand sie, sprach mit ihnen und lächelte sie an, als habe sie nicht eben erst an der Abschlachtung ihrer Tochter teilgenommen…“ (2)
Diese fatale Kombination aus massiver Gewalt und Verrat durch die engsten Bezugspersonen löst schwere Traumata aus: Bis zu 80 % der Verstümmelungsopfer erleiden anhaltende Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), dissoziative Störungen und Angststörungen.
Durch Dissoziation (Abspaltung) und „Identifikation mit dem Aggressor“ – ausgelöst durch das Verstümmelungs-Trauma – werden die ehemaligen Opfer zu Tätern ohne jegliches Mitgefühl…
Verdrängung, Abspaltung und „Identifikation mit dem Aggressor“ sind typische psychische Abwehrreaktionen gegenüber schwerer Gewalt, die besonders dann entwickelt werden, wenn das Maß der erlebten Ohnmacht und Abhängigkeit besonders groß ist. Dabei werden die erlebte Gewalt und damit assoziierte Gefühle (auch Mitgefühl) völlig abgespalten oder abgeschaltet sowie die Verhaltensweisen des Aggressors (unbewusst bzw. oft gegen den bewussten Willen) übernommen und an die nachfolgende Generation weitergegeben.
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Foto (c) Scott Haddow/Flickr